Das Banner-Kunstwerk „People’s Justice“ des indonesischen Künstler:innen-Kollektivs Taring Padi auf der documenta 15 in Kassel ist abgebaut. Anlass: Entdeckung deutlicher antisemitischer Symboliken. Gründe: postkoloniales Unverständnis auf beiden Seiten. - Ein Vermittlungsversuch aus kulturwissenschaftlicher Sicht. 
Nun ist es soweit. Die Debatte über vermeintlichen Antisemitismus bei einzelnen Künstler:innen und Kurator:innen der documenta fifteen in Kassel hat sein breit wahrnehmbares Symbol bekommen. Das bunt bemalte Transparent „Poeple‘s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padis ist abmontiert. Der Blick reicht nun wie immer vom staubigen Friedrichsplatz bis zur Karlsaue. Unterbrochen wird der Blick nur, ebenfalls wie gewöhnlich, von dem kargen Metallquadrat „Rahmenbau“, einem Relikt der documenta 6 von 1977. Wie im Brennglas wird durch den Eklat auf der diesjährigen documenta deutlich, dass Unterdrückung und Widerstand eine komplexe kulturspezifische Interpretations- und Diskurspraxis sind, die einer näheren kulturwissenschaftlichen Betrachtung bedürfen.
Das Transparent von Taring Padis enthielt unter anderem die Karikatur eines finster dreinblickenden Kapitalisten mit Schläfenlocke, krummer Nase, Haifischzähnen und SS-Rune am Kippot-Hut. Diese Merkmale lassen sich im nord-westlichen, europäischen und im deutschen Kontext kaum anders als antisemitisch deuten. Kein Wunder also, dass der Kasseler Oberbürgermeister gleich nach der Entdeckung des genannten Bilddetails seine Wut und Beschämung öffentlich zum Ausdruck brachte. Er scheut auch nicht davor zurück, dem Kurator:innen-Kollektiv mangelndes Verantwortsbewusstsein und geringe Sorgfalt vorzuhalten. Schließlich geht es um den guten Ruf der Stadt Kassel und seiner weltberühmten Kunstschau, die immer ein Garant für außerordentliche Einnahmen war und ist.

Kollaborativität, Happening und Nonprofit als Gesellschaftskritik

Nun liegt aus kulturwissenschaftlicher Sicht zumindest die Vermutung nahe, dass dieser Eklat vielleicht nur die Spitze eines ganz anderen Eisberges ist. Schon seit Monaten wurde im Vorfeld der documenta-Eröffnung eine hitzige Debatte über mögliche Israelfeindlichkeit des Kurator:innen-Kollektiv geführt. Grund war die Einladung palästinensischer Künstler:innen, während israelische außen vor blieben. Nun lässt sich dieser Vorwurf noch relativ schnell mit dem Verweis auf all die anderen Länder der westlichen Welt entkräften, die ebenfalls nicht ihre Aktivist:innenkunst schicken durften.
Der unsichtbare viel größere Teil des Eisbergs mag auf einem sehr grundsätzlichen postkolonialen Diskurswiderspruch basieren. Dieser besteht nicht nur aus der Gegenüberstellung des armen Südens und des reichen Nordens. Dem Hinweis also, dass der Süden über die Jahrhunderte hinweg bis heute seine kulturelle und wirtschaftliche Marginalisierung erfährt. Es sind vor allem die unterschiedlichen Geschichtsperspektiven und Erinnerungskulturen, die sich daraus entwickelt haben.
Das Kurator:innenteam Ruangruppa aus Indonesien sieht ihre Arbeit zum großen Teil durch die Repressionserfahrungen unter dem Suharto-Regime im letzten Drittel des vorherigen Jahrhunderts motiviert. Suharto trat u.a. mit dem Ziel einer wirtschaftlichen Modernisierung und Öffnung zum Westen bzw. zu den westlichen Märkten auf. Ruangruppa entwickelten daraufhin einen Kunst-Begriff, der die Suche nach Emanzipation, Gemeinschaft und Solidarität als Gegenmodell beinhaltet. Diesen fanden sie unter anderem in den kulturellen Traditionen des eigenen Landes. So hat das indonesische Künsterler:innen-Kollektiv das kollaborative und nonprofit-orientierte Handeln in den indonesischen Dorfgemeinschaften in ihr LUMBUNG-Konzept überführt und für die documenta 15 zum Grundprinzip gemacht.
Konseqeunz war, dass primär Künstler:innen aus der südlichen Hemisphäre rekrutiert wurden, die ihr Schaffen in den Dienst einer Widerstandkultur gegen soziale Ungleichheit und für politische, kulturelle Emanzipation gestellt haben.  Das provoziert auch im Westen, denn LUMBUNG erscheint so auch als ein Gegenmodell zum westlichen Kapitalismus samt seiner spezifischen Logik des (Kunst)Marktes und des Kunstbetriebes. Jedoch tun sie das nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit Praktiken, die der Westen ebenfalls in seiner hippen Kreativwirtschaft und Startup-Szene propagiert: Workshops, Mindmaps, Happenings und flache Hierarchien. Das birgt wiederum Provokationspotenzial, da so nicht die auf Effizienz getrimmte Leistungsgesellschaft hofiert, sondern ein wohlwollendes gemeinschaftliches kreatives Rumhängen verfolgt wird.
Durch diese sehr eigene Form des Protests stehen zudem die im Westen entwickelten Konzepte und Akteure postkolonialer Wissenschaftsansätze dem indonesischen Künstler:innen-Kollektiv nur bedingt zur Seite. Kompatibler ist der LIMBURG-Ansatz vordergründig eher mit einer ebenfalls auf Kollaborativität, Spontanität, Partizipation und Nachhaltigkeit ausgerichteten digitalen Hacker- oder Fridays-for-Future-Kultur. Das zeigt sich vor Ort auch an den zumeist jungen „Sorbat-Sorbat“-Helfer:innen. Diese Personen postulieren sich nicht als klassische Ausstellungsführer:innen, sondern als Kunstvermittler:innen auf Augenhöhe, die der freundschaftlichen Beziehungsstiftung zwischen Publikum und Ausstellung dienen sollen. Schon wieder eine Präsentationsweise, die dem klassisch-akademischen Kunstpublikum zunächst gewöhnungsbedürftig erscheint. Denn in der Umsetzung fühlt man sich eher der Peinlichkeit eines auf Gruppendynamik ausgelegten Selbsterfahrungsseminars ausgesetzt. Allerdings schaffen es die meisten Sorbat-Freund:innen dann doch mit der Peinlichkeit umzugehen und zeigen sich gut informiert. Mögliche Wissenslücken können mit dem Hinweis auf das Ausstellungsgesamtkonzept von praktizierter Prozesshaftigkeit, Unvollständigkeit und Improvisation überbrückt werden. 

Postkolonialer Kulturclash: Deutsche Erinnerungskultur vs. indonesische Protestkultur

Wie steht es nun mit der massiven Basis des Eisberges? Dieser ist geprägt durch einen kaum zu unterschätzenden Kulturclash. Ein solcher tritt immer dann auf, wenn zwei traditionsgebundene unterschiedliche Norm- und Wertesysteme aufeinanderprallen. Anhand der Identifizierung antisemitischer Bilddetails auf dem monumentalen Kunsttransparent „Poeple’s Justice“ der indonesischen Künsterler:innen-Gruppe Taring Padis zeigt sich dies in besonderer Weise.
Das Kunstwerk erscheint im Stile eines naiv gemalten karikativen Wimmelbildes, welches die vom Kollektiv anzuprangernde politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Unterdrückung der indonesischen Bevölkerung durch das Suharto-Regime kritisiert. Es besteht so seit 2001 und wurde bereits an zahlreichen öffentlichen Plätzen zur Schau gestellt. Ein entsprechendes Aufsehen bekommt es nun allerdings in Deutschland, was Taring Padis aus ihrem Blickwinkel wohl ernstlich überrascht hat. Allerdings hat das mit dem hiesigen Wertesystem zu tun, das in intensiver erinnerungskultureller Auseinandersetzung mit der eigenen Nazi-Vergangenheit und dem darin vollzogenen Holocaust entstanden ist. Nicht selten zeigt sich auch ein gewisser Stolz darauf, da bereits Nachbarstaaten wie Österreich sich mit einer solchen selbstkritischen Aufarbeitung weiterhin schwertun. Als Konsequenz dieser deutschen Erinnerungskultur hat sich in linksliberalen Kreisen eine besondere Sensibilität gegenüber rechtsextremistischer und antisemitischer Diskurspraktiken entwickelt. Getragen wird diese Sensibilität ebenfalls durch eine protestkulturelle Wertehaltung, welche sich in der Parole: „Wehret den Anfängen“ zusammenfassen lässt.
Nun ist Protestkultur generell, egal ob sie erinnerungskulturell oder aktivistisch geprägt ist, eine subjektive Aneignungskultur. Das heißt, sie beruht auf Sub-Diskursen, in denen sich eines Themas oder Gegenstandes auf bestimmte Weise angenommen und dieses weiterverarbeitet wird. In der Kulturwissenschaft wird als Beispiel dafür häufig auf die Fan-Kultur verwiesen. Diese zeichnet sich durch einen kreativ-produktiven Umgang mit ihren bewunderten Stars, Objekten und Themen aus. Hierdurch entstehen ganz bestimmte Wertesysteme und Vorstellung, wer ein wahrer Fan ist und wie sie/er/… sich dabei zu verhalten habe.
Nun ist die erinnerungskulturell geprägte Sensibilität gegenüber rechtsextremen und revisionistischen Strömungen sicherlich nicht als Fan-Kultur zu bezeichnen. Diese Analogie soll vielmehr das Prinzip der Subjektivität dieser Aneignungsdiskurse illustrieren. Sie soll das Bewusstsein dafür stärken, dass die Wertesysteme und Kodes, die in diesen in Erinnerungs- sowie Protestkulturen entstehen können, sehr stark von eigenen Traditionen, Erfahrungen, Gruppenzugehörigkeiten und Ritualen geprägt sind. Das führt zuweilen zu ganz abweichenden Bedeutungszuschreibungen gleicher Zeichen- oder Symbolphänomene.
Nun kann man wirklich nicht leugnen, dass die gefundene Bildersprache von Taring Padis nicht mit antisemitischen Symboliken spielt. Allerdings sind diese Symboliken in ihrer aktuellen Verwendung ebenfalls subjektive Aneignungen fremder, nämlich der europäischen, nördlichen bzw. westlichen Diskurse. Der Holocaust ist nicht das Thema von Taring Padis. Das Kollektiv agiert nicht aus der Rolle oder Kultur eines Landes heraus, das seine Täterrolle zu bewältigen hat. Vielmehr agieren sie aus der Opferrolle heraus, die historische und anhaltende soziale Ungleichheit und Marginalisierung in ihrem Land und in der Welt kritisiert. Sie ebenso zu behandeln, als seien sie Teil der deutschen Tätererinnerungskultur wäre somit eine weitere koloniale Bevormundung und Vereinnahmung indonesischer Protestkultur in westliche Werte- und Rollensysteme.
Nun ist es bestimmt nicht geschickt, antisemitische Bilddetails im Land der Täter zu zeigen. Allerdings wäre ein Hinweis darauf und eine mögliche interkulturelle Vermittlung sicherlich der unaufgeregtere und im Sinne der Kunst auch angemessene Weg. So ist zu hoffen, dass dieser Eklat nicht die documenta 15 und ihre Aktivist:innen, Freunde und Feste grundsätzlich beschädigt. Das wäre schade angesichts des hier vorgeführten wirklich inspirierenden Alternativmodells zum westlichen Kunst- und Kulturbetrieb. 
Back to Top